Solidarität mit dem feministischen Aufbau in Nordostsyrien / Rojava
Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Praxis internationalistischer Solidarität
Seit das Assadregime 2012 aus dem Norden Syriens vertrieben werden konnte, baut die Bevölkerung eine basisdemokratische Selbstverwaltung auf. Dieser Akt der Selbstermächtigung gegen patriarchale, kolonialistische und staatliche Unterdrückung bezieht alle gesellschaftlichen Gruppen mit ein. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens werden erfasst und große Fortschritte in der Organisierung der Gesellschaft gemacht. So wurden Räte und Kommunen aufgebaut sowie autonome Frauenstrukturen in allen Bereichen. Hinzu kommen kommunale Kooperativen als Teil einer solidarischen Ökonomie um eine materielle Verbesserung der Lebenssituation für die Bevölkerung zu erreichen.
Seit dem 9. Oktober wird Nordsyrien von der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Verbündeten angegriffen. Wohngebiete werden ebenso bombardiert wie zivile Infrastruktur. Es sind gezielte Angriffe um die Bevölkerung zu vertreiben. Es gibt Massaker und grausame Hinrichtungen. Hunderte IS-Kämpfer wurden aus Gefängnissen befreit um die dschihadistischen Kräfte zu stärken. Die schweren Kriegsverbrechen, die mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei einhergehen, geschehen unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Der türkische Präsident Erdogan erklärt seine genozidalen Absichten ganz offen. Die lokale kurdische Bevölkerung, sowie christliche, jesidische, alevitische und andere einheimische Minderheiten sollen ermordet oder vertrieben werden. In den besetzten Gebieten sollen die Familien der Dschihadisten und Geflüchtete aus anderen Teilen Syriens angesiedelt werden. Dieser Plan Erdogans wird durch den EU-Türkei „Flüchtlingsdeal“ bestärkt. Das zeigt einmal mehr welchen menschenverachtenden Charakter die EU-Politik gegen Flüchtende annimmt. Die Verbrechen der Türkei sind nur mittels Billigung anderer Akteure möglich. Die USA und Russland legitimieren den Krieg während die EU, insbesondere Deutschland, dem türkischen Faschismus weiterhin den Rücken stärkt – wirtschaftlich, mit Waffen und geheimdienstlich.
Doch all dies bleibt nicht ohne Widerspruch. Der Widerstand der Bevölkerung in Rojava und Nordsyrien ist ungebrochen. Ihr Wille zur Verteidigung der Revolution, ihr ermutigendes Beispiel des Aufbaus einer basisdemokratischen und egalitären Gesellschaft ist ein Vorbild und Bezugspunkt für viele Kämpfe auf der ganzen Welt. Und so ist auch der Widerstand überall – die Menschen in Rojava haben viele Freund*innen.
Wie können wir die Revolution in Rojava unterstützen und von ihr lernen
Der internationale Widerstand resultiert auch daraus, dass viele Projekte seit Jahren gemeinsame Erfahrungen mit der kurdischen Freiheitsbewegung sammeln. So auch das Kollektiv Avahî, in dem sich vor vier Jahren Menschen aus verschiedenen beruflichen, regionalen und politischen Kontexten zusammenschlossen. Wir arbeiten mit WJAR, der Stiftung der freien Frau in Rojava zusammen, welche Kindergärten, Vorschulen, Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen sowie Kooperativen für Frauen betreibt. Gemeinsam bauen wir ein neues Gesundheitszentrum für Frauen und Kinder. Dies bedeutete in unserer ursprünglichen Vorstellung gemeinsam zu planen, um dann in großen Gruppen aus Deutschland nach Qamişlo zu reisen und dort in Etappen kollektiv zu bauen.
Wir haben umfangreiche Bauplanungen gemacht und im Jahr 2018 sind zwei Delegationen nach Rojava gefahren, um den Bau vorzubereiten.
Realität des Mittleren Ostens
Das Gebiet, in dem wir bauen, ist ein Kriegsgebiet. Die Bewegung, die wir unterstützen, steht zahlreichen regional und global agierenden Akteur*innen gegenüber. Diese versuchen mit allen Kräften die Umsetzung der revolutionären und demokratischen Bestrebungen zu verhindern. Im Laufe des Projektzeitraumes wurde der IS in seiner territorialen Existenz besiegt und das befreite Gebiet Teil der Demokratischen Föderation. Gleichzeitig wurde der Kanton Afrin von der Türkei und ihren dschihadistischen Verbündeten besetzt und geplündert und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Dieses Szenario wiederholt sich nun mit der Besatzung der Region zwischen Gire Spi/Tall Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ain. Auch in der Türkei und im Irak gibt es schwere Angriffe gegen die kurdische Bewegung. Grenzen und Vormachtstellungen verschieben sich kontinuierlich. Die Rahmenbedingungen und unsere Handlungsmöglichkeiten haben sich dadurch immer wieder stark und oft unvorhersehbar geändert.
Schwierigkeiten
Der einzig offizielle Grenzübergang wird im Nordirak durch die KDP-Regierung kontrolliert. Diese kooperiert mit der Türkei, in deren ökonomischer Abhängigkeit sie steht. Da wir uns, im Gegensatz zu vielen NGOs, politisch positionieren, werden wir blockiert. Im Projektverlauf mussten wir mehrfach feststellen, dass die Genehmigungen zum Grenzübertritt nicht planbar sind.
Neben den geglückten Delegationen haben sich drei weitere Gruppen vorbereitet nach Rojava zu fahren. Wir haben unsere privaten, politischen und beruflichen Verpflichtungen und Pläne hinten angestellt und einige haben ihre Wohnungen untervermietet und ihre Jobs gekündigt. Die Willkür des Grenzübertritts und seine Unplanbarkeit führten zu erheblichen Schwierigkeiten. Um einen reibungslosen Bauablauf mit Übergabe von Verantwortung von einer Baugruppe zur nächsten zu gewährleisten, bräuchten wir verlässliche und berechenbare Zeitpläne. Deshalb war es uns nicht möglich das Projekt im ursprünglich geplanten Sinne durchzuführen.
Während wir einige Mitstreiter*innen durch die Schwierigkeiten und Verzögerungen verloren, kamen auch immer wieder neue dazu. Zum Begriff der Kollektivität haben wir dabei viel hinzugelernt. Für die Stiftung und die kurdische Bewegung im allgemeinen steht eine Kollektivität im mentalen oder ideologischen Sinn im Vordergrund. Es ist ein kollektiver Kampf, eine langfristig geteilte Perspektive der gesellschaftlichen Befreiung.
An dieser Stelle müssen wir uns selbstkritisch fragen, inwiefern unsere Schwierigkeiten auch allgemeine Probleme der deutschen Linken widerspiegeln. Die oftmals Projekt- oder Event-bezogene kurzlebige Art uns zu organisieren führt dazu, dass eine langfristige strategische Ausrichtung unserer Kämpfe unmöglich erscheint. Dies fällt im Kontext internationalistischer Solidarität und im Kontrast zum langen Atem und der Fähigkeit zu langfristigem strategischen Denken der Bewegung in Kurdistan und Syrien besonders auf, sollte jedoch allgemeiner diskutiert werden.
Handlungsfähig bleiben – Prioritäten setzen – Baubeginn August 2019
Unser gewachsenes Verständnis von internationalistischer Zusammenarbeit lässt uns Prioritäten setzen um handlungsfähig zubleiben, auch wenn wir dafür viel unserer ursprünglichen Planung verwerfen müssen. Doch unser kollektiver Kampf muss nicht geschwächt werden, weil wir nicht selbst bauen können. Wir handeln solidarisch und kollektiv, denn wir geben nicht auf, sondern transformieren die Projektidee um gemeinsam mit der Stiftung und der lokalen Bevölkerung weiterzuarbeiten.
Da das Gesundheitszentrum dringend benötigt wird, war es keine Option weiter auf eine Verbesserung der Grenzsituation zu warten. Daher hat die Stiftung im August den Bau begonnen.
Wir haben Ende Oktober nochmals 13.400 € nach Qamişlo geschickt, insgesamt wurden damit bisher ca. 65.000 € übergeben. Aufgrund der Angriffe der Türkei mussten die Bauarbeiten allerdings unterbrochen werden. Bisher sind unsere Freund*innen wohlauf, trotz Bombardierungen auch in ihrer unmittelbaren Nähe. Die Bauarbeiter beteiligen sich an den Demonstrationen und die Stiftung leistet Nothilfe und versorgt die vielen Flüchtenden aus den umkämpften Gebieten. In der Vereinbarung zwischen der Türkei und Russland liegt Qamişlo außerhalb der akuten Besatzungszone der Türkei. Die Bauarbeiten werden bald fortgesetzt, das Fundament und die Träger stehen bereits.
Das Gesundheitszentrum für Frauen und Kinder wird dringend gebraucht
Qamişlo ist eine Stadt von 250.000 Einwohner*innen. Der Stadtteil Qanat Swes wurde unter Assads Regime benachteiligt und ist besonders stark von Armut betroffen. Die Bevölkerung hat die demokratische Revolution von Beginn an unterstützt. Viele haben bei der Verteidigung gegen den IS Angehörige verloren. Das bedeutet, neben dem schmerzlichen Verlust, für viele Frauen und Kinder oftmals auch noch größere Armut. Da die Gesundheitsversorgung großteils in privater Hand ist und die Selbstverwaltung nur schrittweise kostenlose Versorgung aufbauen kann, können sich viele Familien den Arztbesuch nicht leisten. Wir werden mit dem Bau des Gesundheitszentrums einen lokalen kostenfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung ermöglichen. Zudem bringt das Gesundheitszentrum als Frauen-Kooperative Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. WJAR trägt damit dazu bei die männliche Dominanz und das Wissensmonopol im Gesundheitssystem zu durchbrechen. Gleichzeitig schaffen sich Frauen einen Zugang zu Ressourcen und wandeln aktiv die Rollenverteilung in der Gesellschaft.
Verantwortung übernehmen
Unsere Kooperation mit den mutigen Frauen von WJAR wird fortbestehen, das Sammeln gemeinsamer Erfahrungen stärkt unsere Kämpfe. Nur zusammen werden wir, allen Hindernissen zum Trotz, das geteilte Ziel einer freien, selbstorganisierten Gesellschaft auf der Basis der Freiheit der Frauen erreichen.
Durch langfristige, anpassungsfähige Zusammenarbeit kann internationalistische Solidarität praktisch werden. Wenn wir nicht selbst bauen können, dann bringen wir unsere Arbeitskraft anders ein. Helft auch ihr, indem ihr einen Arbeitstag spendet und mit euren Kolleg*innen und Freund*innen über das revolutionäre Gesellschaftsmodell in Nordostsyrien sprecht. Werdet Bau-Pate*in und beteiligt euch am Widerstand von Women defend Rojava und Riseup4Rojava.
Lasst uns nicht zusehen wie unsere Freund*innen erpresst, vertrieben, bombardiert und ermordet werden!
Die Revolution in Rojava bewegt uns auf der ganzen Welt, lasst sie uns auch auf der ganzen Welt verteidigen!
Spendenkonto:
Kurdistan Hilfe e.V.
IBAN: DE40200505501049222704
Stichwort: construction