Interview junge welt 10.10.2019

»Revolutionstourist ohne Aufgabe wollte ich nicht sein«

Aus: junge welt 10.10.2019 – Seite 8 / Ausland

Gesundheitszentrum für Rojava

Solidarität im Kriegsgebiet: Internationalisten beteiligen sich in Rojava an Bau einer Poliklinik. Gespräch mit Matthias Freisler* – Interview: Oliver Rast

Sie engagieren sich im Bauprojekt »Avahi« in der Demokratischen Föderation Nordsyrien, kurz Rojava. Wie kam es dazu?

Am Anfang stand die Frage, wie internationalistische Solidarität praktisch werden kann. Wir haben uns für die Kooperation mit der »Stiftung der freien Frau in Rojava«, kurz WJAR, entschieden, weil uns insbesondere die Rolle der Frauen beim Aufbau der Selbstverwaltung beeindruckt hat. Wir bauen ein neues Gesundheitszentrum, das kostenfreie Versorgung für Kinder und Frauen anbieten wird. Neben dieser materiellen Unterstützung ging es uns auch immer darum, die Bewegung in Kurdistan und Syrien besser kennenzulernen. Gemeinsame Diskussionen und Projekte sind die Basis für internationalistische Kämpfe.

Was hat Sie dabei motiviert?

Ich interessiere mich schon lange für die Ideen des demokratischen Konföderalismus. In einer Zeit, in der viele linke Organisationen zerfielen, hat sich die Bewegung in Kurdistan der Herausforderung gestellt, Neues zu entwickeln. Rojava ist das erste Gebiet, in dem diese Ideen in größerem Rahmen erprobt werden. Wenn man wirklich verstehen will, was Schwierigkeiten und Erfolge beim Aufbau dieses Gesellschaftsmodells sind, muss man direkt mit den Menschen in Kontakt kommen. Ich wollte also gerne nach Rojava – aber nicht als Revolutionstourist ohne Aufgabe.

Sie kooperieren, wie eingangs erwähnt, mit der »Stiftung der freien Frau in Rojava«. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus?

Wir haben die komplette Bauplanung gemeinsam entwickelt. Für uns stand zum Beispiel anfänglich nicht fest, was wir bauen – das war Teil des Planungsprozesses. Wir waren auch zweimal vor Ort und haben unsere Freundinnen besucht. Gleichfalls haben wir mit den lokalen Räten, den Anwohnerinnen und Anwohnern geredet. Und natürlich diskutieren wir die derzeitigen politischen Entwicklungen; was wir beispielsweise gegen den Angriffskrieg der Türkei und seine Unterstützung aus der BRD tun können.

Kollektives und ökologisches Bauen unter Kriegsbedingungen – wie geht das zusammen?

Ehrlich gesagt, weniger gut, als wir anfänglich dachten. Drei von fünf geplanten Delegationen wurde die Einreise verweigert, da die KDP-Regierung im Nordirak eng mit der Türkei kooperiert und die Grenze immer wieder schließt. Wir haben zu Beginn des Jahres mit der WJAR entschieden, dass wir gemeinsam mit lokalen Bauarbeitern tätig werden. Schließlich ist der Bedarf groß, und es hilft nicht, wenn wir anfangen zu bauen und dann die nächste Baugruppe nicht ankommt. Wir müssen Prioritäten setzen.

Inwieweit haben der türkische Einmarsch und die Annexion in Nordsyrien das Bauvorhaben erschwert?

Die Arbeiten mussten unterbrochen werden, da auch in unmittelbarer Nähe unserer Freundinnen und Freunde Bombenangriffe stattfanden. Die lokalen Strukturen benötigen nun noch wesentlich mehr Unterstützung – beispielsweise bei der Inneneinrichtung unseres Gesundheitszentrums, da ihre Kapazitäten im Moment hauptsächlich für die Nothilfe gebraucht werden.

In den 1980er Jahren gab es nach der sandistischen Revolution in Nicaragua diverse Brigaden westdeutscher Linker, die sich am Aufbau des Landes beteiligten. Beziehen Sie sich auf frühere Initiativen?

Selbstverständlich sind wir inspiriert von linker Geschichte. Das globale Herrschaftssystem des Patriarchats und Kapitalismus kann nicht lokal überwunden werden. Das ist heute so und war damals nicht anders. Wir lernen aus unserer Geschichte ebenso wie aus den aktuellen Kämpfen und Bemühungen unserer Freundinnen und Freunde.

Wann soll die Poliklinik in Betrieb gehen?

Die Bauarbeiten wurden vor gut zwei Wochen wieder aufgenommen. Wir gehen davon aus, dass sie in drei Monaten abgeschlossen sind. Die Inneneinrichtung wird noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Wir streben an, spätestens in einem halben Jahr Patientinnen und Patienten dort behandeln zu können.